Lernen von unseren Großeltern

Geschichten von früher

16.05.2022

Oh Heimat, schön wie du mich anlachst – Du bist immer da – Wenn ich keinen zum Reden hab." So singt es der deutsche Popmusiker ­Johannes Oerding in seinem Song „Heimat".

IMMER DABEI Die Großeltern von Chris Bruns begleiten ihren Enkel bei allen wichtigen Schritten im Leben. „Sie sind wie zweite Eltern für mich", sagt der Linderner.

Heimat also. Für viele Menschen ist das kein Ort, der sich geografisch festlegen ließe. Es bedeutet nicht nur eine vertraute Sprache, Kultur und Kulinarik, sondern vor allem eines: Familie. Eine große Rolle spielen in ihr nicht selten die Großeltern. Sie sind die, von denen wir so viel lernen, über eine Zeit, die uns in jungen Jahren so weit weg erscheint. Über Traditionen, Werte, Zusammenhalt. Drei Menschen aus dem Oldenburger Münsterland haben uns erzählt, wie ihr Verhältnis zu den Großeltern sie geprägt hat.

Einer von ihnen ist der Linderner Musiker Chris Bruns. Als Inhaber mehrerer Musikschulen im Landkreis Cloppenburg hat er sich einen Namen gemacht, seine Band Crackerjacks hat nun mit „... goes" das erste Album veröffentlicht. Bei Auftritten ist der Oerding-Song ein oft gespieltes Stück. „Da kann es schon passieren, dass ich beim Spielen ins Grübeln komme: Was bedeutet Heimat eigentlich für mich selbst?" Dass Bruns heute so ist, wie er ist, verdankt er nicht zuletzt Opa Hans und Oma Maria, da ist er sich sicher.

GUTES TEAM Mit Oma Maria verbindet Chris Bruns jede Menge Kindheitserinnerungen.

Nicht nur, weil sie bei jeder Eröffnung seiner Musikschulen dabei waren und ihn bei all seinen Zielen unterstützen. „Sie sind Teil meiner täglichen Arbeit", erzählt der 30-Jährige. „Spätestens dann, wenn ich mich erinnere, woher ich komme."

Chris Bruns wuchs auf einem Bauernhof in Lindern auf – der Mittelpunkt von allem, sagt er rückblickend. „Ich sehe meinen Opa noch heute bei der Arbeit vor mir: auf dem Trecker mit Güllefass, beim Schweine füttern. Meine Oma hingegen war als Hausfrau unschlagbar und hat bis heute dieses Talent fürs Zwischenmenschliche." Von ihnen habe er gelernt, dass harte Arbeit zum Erfolg führt, aber auch, wie wichtig Feingefühl ist. Die Kombination aus beidem helfe ihm sehr bei seiner Arbeit als Musiklehrer – vor allem in Zeiten der Pandemie, die das Geschäft für Künstler:innen härter denn je werden ließ.

Mit Mitte 20 machte der gelernte Industrie­kaufmann und studierte Betriebswirt sich mit seiner ersten Musikschule selbstständig. Heute beschäftigt er ein Team aus zehn Mitarbeitenden. „Dass ich einfacher Bauern­junge mal so einen Weg mache, hätte ich früher niemals gedacht – und meine Großeltern wohl auch nicht", gibt Bruns schmunzelnd zu. Mit der Musik haben die beiden nämlich nichts zu tun. Zu seinen Auftritten kommen sie trotzdem und schauen ihrem Enkel stolz dabei zu, wie er das macht, was ihm Freude bereitet.

„Meine Großeltern erinnern mich an meine Wurzeln, sagt Chris Bruns."

Die große Bühne hat auch Anja Muhle aus Visbek lieben gelernt. Sie ist seit vielen Jahren als Moderatorin, Eventplanerin und Podcasterin auch über die Grenzen der Region hinaus bekannt. Oma Elisabeth spielte dabei eine wichtige Rolle. „Da unsere Familie seit vielen Jahren einen großen Gastronomiebetrieb in Visbek führt, haben meine Eltern abends und am Wochenende meist gearbeitet. Oma war immer da. Sie hat mich zu meinen Gesangsproben begleitet, war bei Theaterauftritten dabei und hat mich in allem bestärkt, was ich tat." Auch ihre Verbindung zur katholischen Kirche hat Muhle von ihrer Oma mitbekommen. Der gemeinsame Gang zur samstäglichen Vorabendmesse war schon fast ein kleines Ritual zwischen ihnen.

ERFAHREN Anja Muhle hat mehr als 15 Jahren Bühnenerfahrung.

Vor allem nach Elisabeths Tod im Jahr 2016 begann Anja Muhle, in alten Erinnerungen zu graben und ihre tiefe Bindung zur Großmutter genauer zu hinterfragen. „Unsere Beziehung hat sich über die Jahre verändert, weil meine Oma sehr krank war", erzählt sie. „Ich habe früher nicht gesehen, was körperliche und seelische Erkrankungen mit einem Menschen machen, konnte sie deshalb manchmal nicht verstehen. Heute kann ich das."

Und auch einige andere Gewohnheiten ihrer Oma kann die 33-Jährige erst heute wirklich nachvollziehen. Zum Beispiel ihre Vorliebe für gute Gespräche. „Als ich klein war, konnte ich aus meinem Kinderzimmer den Flur hinunterschauen. Da saß Oma jeden Abend in ihrem Zimmer und hat mit Freunden telefoniert", erinnert sie sich. „Früher fand ich das komisch, denn sie hatte doch eine große Familie, mit der sie sprechen konnte. Aber inzwischen weiß ich, wie schön – und wichtig! – es ist, den Kontakt zu Freunden zu pflegen."

In einem Punkt ist Anja Muhle heute sogar tatsächlich ein bisschen wie Oma Elisabeth. „Ich ziehe mich wahnsinnig gern richtig gut an, mit passendem Make-up und Schmuck", erzählt sie. „Das richtige Outfit zusammenzustellen, gehört einfach dazu, bevor ich auf die Bühne gehe. Wie ein Supergirl-Cape, das mir Kraft verleiht." Auch ihre Oma legte immer Wert auf ein gepflegtes Äußeres und das gewisse Etwas. Nicht etwa, um zu kaschieren, sondern um sich zusätzlich zu pushen. Ähnlich wie bei Chris ­Bruns ist auch Anja Muhle im Beruf ein Stück weit von ihrer Familie geprägt. „Dadurch, dass ich in einem Drei-Generationen-Haushalt voller Gast­geber großgeworden bin, sehe ich mich selbst bei meinen Moderationen als genau das: als Gastgeberin fürs Publikum."

EINFLUSS Anja Muhle wurde schon früh von Oma Elisabeth geprägt.

„Ich bin so gespannt, was Du mal machst", hat Oma Elisabeth mal gesagt. Den abgedroschenen Ratschlag, etwas ­Vernünftiges zu lernen, gab sie hingegen nie. „Ich glaube, meine Oma hat sich gefreut, dass ich das mache, was mir wichtig ist. Ihre eigene Jugend war von der Nachkriegszeit geprägt. Da war kein Platz für große Träume." Umso stolzer begleitete sie ihre Enkelin auf ihrem Weg. Vor allem ein Moment ist Anja Muhle in Erinnerung geblieben: „Omas funkelnde Augen, als ich hier im Jahr 2008 Erdbeerkönigin geworden bin, werde ich niemals vergessen. Das hat ihr so viel Freude bereitet."

Vor allem ihre Leidenschaft für Mode hat Anja Muhle von ihrer Oma.

Über die Bedeutung von Familie nachgedacht hat die Visbekerin vor allem, als sie selbst Mutter wurde. Ihr Sohn ist heute ein Jahr alt, ihre Eltern nehmen die Rolle der Großeltern ein. „Ich ziehe mein Kind nicht nur mit meinem Partner, sondern mit meiner ganzen Familie groß. Damit schließt sich ein Kreis." Ihr Sohn lernte im großen Festsaal laufen und wirft schon jetzt regelmäßig neugierige Blicke in die Töpfe in der Großküche. So wie früher Anja Muhle. Und die ist sich sicher: „Hätte ich meine Oma nie kennengelernt, wäre mein Blick auf das, was Familie ist, heute ein anderer."

Das sieht auch Jannes Runge so. Der gebürtige Friesoyther schätzt den Einfluss seiner Großeltern auf sein eigenes Leben hoch ein. „Wären sie nicht gewesen, wären meine Eltern nicht zu ihnen aufs Land gezogen. Und ich hätte vieles nicht mitbekommen."

ERFOLGREICH Der 23-jährige Friesoyther arbeitet heute als Digitalberater.

Dazu gehören zum Beispiel die Arbeit im Bauerngarten, mit Erdbeeren und Spargel aus eigenem Anbau, und natürlich Omas selbstgemachte Marmelade. „Für die fahre ich noch immer extra zurück in die alte Heimat", sagt Runge, der schon mit 17 sein erstes Unternehmen gründete und heute als viel gefragter Digitalberater in und um Oldenburg verschiedene Firmenprojekte leitet.

Sein Beruf ist für seine Großeltern allerdings nicht greifbar. „Ich habe immer ein risikoreiches Leben geführt, statt den klassischen Weg zu wählen, der meinen Großeltern vertraut gewesen wäre. Dadurch verstehen sie nur bedingt, was ich eigentlich genau treibe", sagt der inzwischen 23-Jährige schmunzelnd. „Aber das macht überhaupt nichts! Wir haben doch noch so viele andere Themen, über die wir uns unterhalten können."

PRÄGEND Die Bindung zu Großeltern ist für Kinder besonders wichtig.

Was Runges Großeltern von vielen anderen unterscheidet, ist ihr vergleichsweise junges Alter. Anke und Herbert sind erst Mitte 60 und damit gut zwanzig Jahre jünger als viele andere Großeltern. „Dass die beiden so jung sind, bedeutet nicht nur, dass ich sie vermutlich noch viele Jahre bei mir haben werde, sondern auch, dass ich noch eine Uroma habe", freut sich Runge. Und die ist mit ihren 86 Jahren noch vergleichsweise fit. „Und auch für meine eigenen Kinder stehen später die Chancen nicht schlecht, dass sie ihre Urgroßeltern noch kennenlernen können. Und das ist doch einfach wunderbar."

In der Familie Runge sind also nicht nur drei, sondern sogar vier Generationen versammelt. Zwar wohnen sie nicht mehr alle unter einem Dach, doch das Zusammengehörigkeitsgefühl bleibt. „Nur, weil ich meine Großeltern heute nicht mehr täglich treffe, sondern nur noch alle paar Wochen zu Besuch bin, ist die Beziehung zu ihnen nicht weniger wert – im Gegenteil." Man höre sich aufmerksamer zu, nehme sich bewusster Zeit füreinander. Und das jährliche Osterfeuer in Süddorf ist nach wie vor ein fester Termin im Familienkalender.

FÜNF GENERATIONEN Als Jannes Runge klein war, lernte er sogar noch seine Ur-Ur-Oma (zweite von links) kennen.

Das Kontakthalten ist mit Anke und Herbert dank Smartphone und Tablet ein Leichtes – auch das unterscheidet sie von vielen anderen Großeltern. „Früher haben die beiden mich immer gewarnt, dass ich vom Computer spielen eckige Augen kriege", sagt Runge lachend. „Und heute sind sie es, die begeistert vorm Smartphone sitzen."

Das traditionelle, nahezu nostalgiebehaftete Image unserer Großeltern-Generation wird also zunehmend zurückgedrängt. Doch am Ende ist Familie noch immer ein Stück Heimat. Mit Wurzeln, die uns Halt geben. Etwas, das bleibt. Wie bei Johannes Oerding: „Oh Heimat, und wie du wieder aussiehst – Ich trag dich immer, immer bei mir – Wie'n Souvenir".

NOSTALGIE PUR Im Tante-Emma-Laden können Besucher:innen des Museumsdorfs Cloppenburg einkaufen, wie es einst die Großmutter tat.

Auf Zeitreise gehen

Im Museumsdorf Cloppenburg wird Geschichte lebendig. Bald auch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In den kommenden Jahren soll rund um die Disco „Zum Sonnenstein" ein neuer Bereich entstehen: das „Neu-Land", eine typische Siedlung aus den 1950er- und 1960er-Jahren. Einen Vorgeschmack bekommen Besucher:innen schon jetzt in der Dauerausstellung „Konsum(t)räume – Zwischen Acker und Asphalt". Sie zeigt den Alltag im ländlichen Raum zwischen 1949 und 1989 – Jahrzehnte, die für die Großeltern von heute besonders prägend waren.